Reichweite in sozialen Medien gilt vielen Unternehmen als wichtigste Messgröße für den Erfolg des eigenen Marketings. Falsch, sagt der deutsche Online-Marketingexperte Gero Pflüger im Interview. Die Reichweite zu erhöhen, könne nicht primäres Ziel im digitalen Marketing sein.
Industriemedien: Herr Pflüger, Marketingverantwortliche argumentieren ihre Kampagnenplanung gerne mit dem Wunsch nach Reichweite. Sie haben vor Kurzem in einem viel diskutieren Blogbeitrag davor gewarnt, die Reichweite als Kennzahl zu überschätzen. Die Reichweite, so haben Sie geschrieben, sei „ein toter Gaul, der selbst im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts durch die Werbeindustrie geritten wird“. Warum steigen denn Marketingverantwortliche Ihrer Meinung nach so gerne auf diesen Gaul auf?
Gero Pflüger: Weil Reichweite eine gelernte und völlig legitime Größe aus der Printwelt ist. Dort ist Reichweite, also die verbreitete Auflage multipliziert mit der Leserzahl, eine sinnvolle und eigentlich auch die einzige aussagekräftige Kennzahl. Aber im digitalen Marketing geht es nur bedingt um Reichweite, sie ist eine leere Worthülse, besonders im B2B-Bereich.
Industriemedien: Worum geht es dann?
Pflüger: Ich muss Reichweite in Beziehung zu einem anderen Wert setzen, sonst ist sie als Kennzahl wertlos. Ein Beispiel aus dem normalen Leben: Wir beide telefonieren gerade miteinander und haben uns noch nicht persönlich kennengelernt. Wenn ich Ihnen sage, dass ich 85 Kilogramm wiege, welches Bild haben Sie dann von mir? Genau: gar keins. Ihnen fehlt ein sinnvoller Bezug, zum Beispiel meine Körpergröße. Wenn ich 1,50 Meter groß bin und 85 Kilogramm wiege, dann habe ich wohl ziemliches Übergewicht. Wenn ich über zwei Meter groß bin, verhungere ich vermutlich gerade. Und genau so ist das mit dem digitalen Marketing. Viele Unternehmer schielen nur auf ihre Followerzahlen oder meinetwegen auf Zugriffe oder Nutzerzahlen bei ihren Webauftritten oder bei jenen von Medien, nutzen aber keine sinnvollen Bezugsgrößen. Das sagt alles wenig bis gar nichts aus. Bei sozialen Medien kann es darauf ankommen, wie etwa die Interaktionsrate mit den Usern ist, bei Webauftritten wie jenen von Medien natürlich auch darauf, wie groß das theoretische Publikum überhaupt sein kann und wie dessen Qualität ist.
Aber auch im B2B-Bereich gibt es eine psychologische Referenzgröße, die oft aus dem B2C-Medienmarkt kommt. Da erwartet dann vielleicht der Marketingchef eines B2B-Unternehmens, dass der Instagram-Auftritt bitte mindestens genau so viele Abonnenten hat wie von einem Mode-Influencer.
Das ist das Problem. Der Marketingchef sollte sich eher darüber Gedanken machen, ob er in seiner Kundendatei genauso viele Datensätze hat wie ein Online-Modeversand. Wenn er spezielle Werkzeugmaschinen verkauft, dann wahrscheinlich nicht. Insofern kann er nicht erwarten, dass er mit seinen Auftritten ein so großes Publikum erreichen kann – und abgesehen davon wäre es auch komplett sinnlos. Reichweite braucht auch immer die Relation zum jeweiligen Markt. Es kommt doch darauf an, welche Ziele ich mit meinen Kampagnen, ob in sozialen Medien oder auf News-Portalen, erreichen möchte. Die Reichweite aufblasen zu wollen, kann jedenfalls kein Ziel sein. Die Loyalität der Kunden zu erhöhen, das kann dagegen ein Ziel sein. Oder das Markenimage zu heben.
Was ist aus Ihrer Erfahrung der Basis-Fehler, wenn Unternehmen sich entscheiden, in sozialen Medien aktiv zu werden?
Genau das. Einige entscheiden sich, in sozialen Medien aktiv zu sein, als wäre es ein Selbstzweck. Bloß aktiv zu sein, ist wirtschaftlich jedoch Unsinn. Man muss sich zunächst einmal entscheiden, was man mit dieser Präsenz erreichen möchte. Bei einem komplexen Produkt könnten Sie zum Beispiel einen Support-Channel auf YouTube, Twitter oder Facebook einrichten, um den Usern zu helfen, mit dem Produkt zurecht zu kommen. Da geht es gewiss nicht darum, viele Follower zu bekommen, sondern denen, die ein Problem mit Ihrem Produkt haben, schnell zu helfen. Grundsätzlich machen sich aus meiner Erfahrung Unternehmen manchmal nicht gründlich genug die Mühe eines Perspektivwechsels – nämlich die Position des Kunden einzunehmen. Inhalte müssen für den Kunden nützlich sein oder lehrreich, ja, sogar unterhaltsam.
Womit wir schon beim Content Marketing wären. Wo hat Sie denn eigentlich Content Marketing zuletzt ganz persönlich überzeugt?
Ich habe vor Kurzem ein Haus gekauft und umgebaut. Dazu muss man wissen: Ich habe zwei linke Hände und keine Ahnung vom Handwerken. Aber ich war ehrgeizig und wollte meine Wände selbst verputzen. Also habe ich auf YouTube nachgesehen, wie man das am besten macht und bin auf ein Video von Knauf gestoßen. Es war auf Bulgarisch. Ich spreche kein Wort Bulgarisch, aber das Video hat so gut gezeigt, wie man Wände verputzt, dass ich daraus mein ganzes Wissen bezogen habe. Das Produkt von Knauf war in dem Video kaum zu sehen, es stand nur am Rand herum. Ich hab mir danach zwei Sack des Produkts gekauft, weil ich in deren Kompetenz Vertrauen gefasst habe. So ist eben Content Marketing: Es geht immer vom Nutzen für den Kunden aus, niemals vom bloßen momenthaften Unternehmensinteresse. Für Letzteres gibt es klassische Werbung.
Wie viel Zeit braucht man denn, um zu sehen, dass Content Marketing insgesamt zu wirken beginnt?
Das ist ein anderer, wichtiger Punkt: Sie brauchen Geduld. Wenn ich den Markenauftritt eines Unternehmens übernehme, dann nur über einen längeren Zeitraum. Man kann – wie auch bei SEO – nicht erwarten, dass es sofort spürbare Ergebnisse gibt. Das zieht sich über Monate hin; nur dann ist die Wirkung der Maßnahmen wirklich nachhaltig. Aber dann funktioniert es auch.
Vielen Dank für das Gespräch!